Kapitel 1
»Hände hoch! Überfall!«
Wäre der Ausruf weniger fordernd gewesen und wären der Verkäuferin die Gesichtszüge nicht so entglitten, hätte Rosalie die tiefe Bassstimme hinter sich vielleicht für die eines Witzboldes gehalten, der zu schlechten Scherzen aufgelegt war. Aber als es in der nächsten Sekunde zweimal hinter ihr krachte und das Glas der ersten Schmuckvitrine zerbarst, wusste sie, dass dies bittere Realität war. Rosalie befand sich mitten in einem Überfall auf das Schmuck- & Auktionshaus Rugery.
Die eben noch freundlich entspannte Verkäuferin schrie auf, warf beide Hände nach oben und gleichzeitig das Telefon auf den Marmorboden. Die dunklen Augen der Frau waren vor Schreck weit aufgerissen und alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. Vor wenigen Minuten hatte sie mit ihren pechschwarzen Haaren und dem knallroten Wickelkleid, das jede Kurve ihres Körpers betonte, noch wie eine feurige Tangotänzerin gewirkt. Jetzt schnappte sie wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Rosalie spürte, wie ihr eigener Pulsschlag sich beängstigend beschleunigte. Ihr Herz war nicht mehr das jüngste. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Sie riss sich vom Anblick der Schmuckverkäuferin los und wandte ihren Kopf leicht zur Seite. Eine schwarz behandschuhte Hand raffte aus der zertrümmerten Vitrine alle Uhren, derer sie habhaft werden konnte. Unwillkürlich drückte Rosalie ihre Handtasche fester an ihren Bauch. Gleichzeitig senkte sie den Kopf. Jetzt hatte das feuchte Märzwetter in Ebbelheim sogar noch etwas Gutes, denn sie hatte ihr beigefarbenes Kopftuch mit den weißen Tupfen weit in die Stirn gezogen, um ihre Haare vor dem Nieselregen zu schützen. Unauffällig hob sie den Kopf und ließ ihren Blick von den schwarzen Händen des Räubers aufwärts wandern. Der Mann trug einen schwarzen Lederblouson zu einer schwarzen Jeans und schwarzen Schuhen. Haare und Gesicht verbarg er unter einer ebenfalls schwarzen Strumpfmaske. Auf einer Bühne wäre er das passende Pendant zu der Tangotänzerin für einen feurigen Paso Doble. Aber der Herr wollte nicht tanzen, sondern stopfte die exklusiven Uhren mit einer Hand in eine Baumwolltasche, die über seiner Schulter baumelte. Die andere Hand hielt einen Vorschlaghammer. Dann umfasste er mit beiden Händen den Stiel. Kein Laut drang aus seinem Mund, als er kraftvoll und präzise auf die Glasscheibe der nächsten Vitrine schlug. Einmal, zweimal. Laut krachend zerbarst das Sicherheitsglas. Splitter flogen Rosalie entgegen, prallten an ihrer geliebten Jacke aus Schurwolle und Kaschmir ab und fielen zu Boden. Diesmal verschwanden in Sekundenschnelle ausgefallene Silberketten, Ohrstecker und Ringe in der Umhängetasche. Ein silbrig glänzendes Metallschild mit dem Schriftzug ›Individuelles Design – exklusive Silberkollektion‹ hatte ausgedient und landete vor Rosalies Füßen. Blitzartig drehte der Mann sich um. Er hatte bereits die nächste Vitrine ins Visier genommen. Erschrocken wich Rosalie einen Schritt zurück. Die Scherben knirschten unter ihren Schuhen. Ihre Kniekehle berührte schon das kleine Ledersofa, das für wartende Kunden bereitstand. Weiter zurückweichen konnte sie nicht. Viel würde von dem altehrwürdigen Schmuck- & Auktionshaus Rugery nicht übrig bleiben, wenn nicht bald jemand dem Treiben Einhalt gebot. Doch Rosalie betete inbrünstig, dass genau dies nicht geschehen würde. Nur keine Polizei, solange sie noch im Geschäft war. Ihr Puls pochte bis zum Hals.
Als die dritte Vitrine mit zwei präzisen Schlägen in Trümmern ging, fing die Schmuckverkäuferin hysterisch an zu schreien und rannte vor den Verkaufstresen. Rosalie zog ihre Schultern hoch, als könne sie damit ihre Ohren vor dem Geschrei schützen. Reden ist Silber, schweigen ist Gold – selten war eine Lebensweisheit so angebracht wie jetzt. Doch in diesem Fall reichte es nicht einmal für Bronze, denn die Frau riss kreischend, als wolle sie eine Alarmanlage ersetzen, einige der mit Brillanten besetzten Goldcolliers an sich. Dabei verletzte sie ihre Hand an den herumliegenden Scherben. Gleichzeitig versuchte sie mit der zweiten Hand, den Täter am Ärmel wegzuziehen. Sie war chancenlos. Der Mann beendete den unfreiwilligen Tanz mit einer ruckartigen Bewegung seines Arms und schüttelte die Frau ab wie ein lästiges Insekt. Die Verkäuferin geriet ins Straucheln, rappelte sich wieder auf und griff den Mann erneut an. Dabei schrie sie: »Das glaube ich jetzt nicht! Du bist doch …« Der Mann hob den Hammer und schlug zu. Ungebremst flog die Verkäuferin mit dem Kopf gegen eine der zerstörten Vitrinen und sank zu Boden. Sekunden später waren die Goldcolliers bereits in der Baumwolltasche des Mannes verschwunden. Wieder hob er den Hammer. Dann schaute er zu Rosalie. Sollte sie ihre Rückkehr nach Ebbelheim am Taunus tatsächlich mit dem Leben bezahlen? Wie sehr vermisste sie in diesem Moment die wärmenden Sonnenstrahlen auf Teneriffa. Sie könnte jetzt mit ihren siebenundsiebzig Jahren in ihrer Lieblingsbar einen Cappuccino trinken. Doch stattdessen befand sie sich im nasskalten Ebbelheim am Taunus mitten in einem Raubüberfall. Rosalies Kehle entrang sich ein Seufzer, als sie rücklings auf die Couch sank.
***
Der Countdown lief. Präzise wie ein Schweizer Uhrwerk zählte die digitale Uhr auf dem Computerbildschirm die Zeit runter: ein Tag, drei Stunden, sechsundvierzig Minuten und zwölf Sekunden ... elf Sekunden ... zehn. Das satte Grün der Palmwedel, der helle Sand und das tiefblaue Meer auf seinem PC zogen Hauptkommissar Beinert ebenso in den Bann, wie die stetig zerrinnende Zeit. Nur noch ein Tag, drei Stunden, fünfundvierzig Minuten und vierundfünfzig Sekunden trennten ihn von seinem Abflug zu eben diesem Strand. Mit beiden Händen rieb er über sein etwas fülliges Gesicht und holte sich damit in die Wirklichkeit zurück. Bis er sich in die Wellen des Indischen Ozeans stürzen würde, gab es noch einiges zu erledigen.
Akten über Akten! Beinert hasste diese unerledigten Papierberge. Ein weiterer Aktendeckel flog auf den Stapel zu seiner Linken, der in der letzten halben Stunde zu einer beachtlichen Höhe angewachsen war. Bei den meisten Vorgängen fehlte nur eine Kleinigkeit: eine E-Mail hier, eine Bestätigung dort. Aber Kleinvieh machte bekanntlich nicht nur Mist, sondern auch Arbeit. Beinert griff nach dem nächsten Stück Papier, einem Schreiben der Personalabteilung. Die Probezeit seiner jungen Kollegin, Analyn Zettelmann, näherte sich dem Ende und die Personalabteilung forderte seine Beurteilung als ihr Vorgesetzter. Diesen Vorgang konnte er schlecht delegieren und legte ihn daher in seine Schublade. Die Sache hatte Zeit bis nach seinem Urlaub. Auf einen Post-it-Zettel kritzelte er »Bitte erledigen«, klebte ihn auf den Aktenstapel und trug alles zu dem Schreibtisch seiner Kollegin. Ihre halb-asiatischen Mandelaugen würden sich morgen früh noch weiter verengen, wenn hanseatische Wut und philippinische Zurückhaltung in ihr kämpften. Ein Anblick, auf den er sich insgeheim schon freute. Als habe es genau auf diesen Moment gewartet, meldete sich ihr Telefon und zeigte eine interne Nummer. Ohne zu zögern, nahm Beinert den Hörer an sein Ohr.
»Lissy, was gibts?«
»Ach Hartwig, du bist es. Ich suche Analyn.«
»Die verstärkt seit zwei Stunden die Kollegen vor dem Asylantenheim.«
»Ach so. Schade. Und du hältst hier die Stellung?«
»Nein, ich bin ebenfalls auf dem Sprung.«
»Du auch? Was für ein Aufgebot für ein paar arme Asylanten.«
Beinert widersprach: »Nein, ich werde dort nicht gebraucht. Ich fahre nach Hause. Koffer packen.«
»Ach richtig. Du hast ja Urlaub. Wandern im Bayerischen Wald, oder?«
»Nichts da. Siebenundzwanzig Jahre Bayerischer Wald sind genug.«
»Siebenundzwanzig Jahre? Das ist quasi mein ganzes Leben.«
»Meins auch«, antwortete Beinert trocken. »Jedenfalls mein früheres.«
Lissy lachte fröhlich in sein Ohr. »Was eine neue Liebe bewirken kann. Wer hätte das gedacht.«
»Wem sagst du das.« Beinert musste selber schmunzeln. Der erste gemeinsame Urlaub mit Silvia! Er freute sich darauf wie ein Kind auf Weihnachten.
»Wo gehts denn hin?«
»Wir fliegen nach Phuket.«
»Phuket«, Lissy ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen als habe es einen besonderen Geschmack. »Cool. Kann man da wandern?«
»Wieso wandern?«
»Na, früher hast du nur Wanderurlaube gemacht.«
»Früher – jetzt geht es in ein Strandresort zum Schnorcheln, Tauchen, Schwimmen, Seafood essen, Sonnenuntergänge im Meer. Schließlich reise ich mit einer Bademeisterin.«
»Wenn deine Flamme ausfällt, sag Bescheid. Dann springe ich ein und bringe dir das Schwimmen bei«, kokettierte Lissy.
»Keine Chance«, erwiderte Beinert. »Ich bevorzuge Profis an meiner Seite. Außerdem könntest du meine Tochter sein.«
»Eben drum. Überleg mal, wie viel Aufsehen du mit mir in diesem Resort erregen würdest.«
»Danke, aber dafür bin ich zu alt, Lissy. Außerdem musst du hier die Stellung halten und mir hinterher den neuesten Klatsch und Tratsch erzählen. Das kann niemand so schön wie du.«
»Was soll das denn heißen?«
»Nichts.« Beinert lachte in ihr beleidigtes Schweigen hinein. Lissy hatte Herz und Mundwerk auf dem rechten Fleck. Er mochte ihre junge, unbekümmerte Art. Trotzdem beendete er das Telefonat. Auf dem Rückweg zu seinem Schreibtisch schaltete er die Kaffeemaschine aus. Endlich mal ein früher Feierabend. Die freie Zeit konnte er gut gebrauchen. Sein Koffer stand zwar schon im Wohnzimmer, aber von allein packte er sich nicht. Seit der Scheidung hatte sich sein Leben komplett verändert. Das schlimmste Tal hatte er dank Silvia hinter sich gelassen. Allerdings hatte er auch so manche Komfortzonen seines früheren Lebens eingebüßt. Fertig gewaschene und gebügelte Wäsche hatte ebenso dazugehört wie ein stets gefüllter Kühlschrank oder ein lecker gekochtes Abendessen nach Feierabend. Jetzt hieß es günstigenfalls gemeinsam kochen. Aber das alles war Jammern auf höchstem Niveau. In einem Tag, drei Stunden, neunundzwanzig Minuten und vier Sekunden würde er bereits im Flugzeug sitzen und ganz Ebbelheim konnte ihm den Buckel runterrutschen. Pfeifend schaltete Hauptkommissar Beinert den Computer aus, nahm seine Lederjacke vom Haken und schloss hinter sich die Tür ab. Im Erdgeschoss warf er einen kurzen Blick in den Dienstraum der Streifenpolizei.
»Ich bin dann mal weg«, rief er den beiden anwesenden Kollegen zu.
Lissy nahm das Headset ab, das sie mit der Telefonzentrale verband. »Warte mal, Hartwig. Kommt Analyn noch mal rein?«
»Nein. Warum?«
»Ist privat. Wobei – vielleicht kannst du mir ja auch helfen. Ich suche kurzfristig eine neue Wohnung.«
»Hm, ich halte mal Augen und Ohren offen. Vielleicht findet sich eine geräumige Bambushütte auf Phuket.«
»Haha, sehr witzig.« Lissy verzog säuerlich die Miene und konnte trotzdem ein Grinsen nicht verbergen. »Schönen Feierabend«, rief sie ihm hinterher.
»Ebenso.« Beinert tippte zum Gruß mit dem Zeigefinger an die Stirn und verließ die Wache, als das Telefon klingelte und Lissy sich Kopfhörer und Mikrofon über ihre blonden Haare schob.
Hauptkommissar Beinert manövrierte gerade seinen Passat aus der Parklücke, als er Lissy im Rückspiegel erblickte, die wild mit den Armen fuchtelte. Wenig begeistert steuerte er den Wagen neben das Gebäude und ließ die nasse Fensterscheibe hinunter.
»Was gibts?«
»Raubüberfall auf das Juweliergeschäft in der Bahnhofstraße.«
»Scheiße!«
»Wem sagst du das. Eine Frau ist schwer verletzt. Ein Streifenwagen ist bereits unterwegs.«
»Mist«, brummte Beinert in seine Bartstoppeln. »Ruf die Zettelmann an. Sie soll da auch hinkommen.« Dann gab er Gas.
***
Als Analyn Zettelmann die Bahnhofstraße erreichte, hatten die Kollegen vom Streifendienst bereits alle Hände voll damit zu tun, Schaulustige auf Abstand zu halten. Ein Krankenwagen blockierte eine der beiden Fahrspuren, während der Notarztwagen direkt auf dem Gehweg parkte. In der Dämmerung zuckten blaue Lichtreflexe über die Schaufenster des Juweliergeschäfts und spiegelten sich auf dem nassen Asphalt. Analyn steuerte den einzigen freien Parkplatz an. Kurz darauf rannte sie mit hoch gezogenen Schultern durch den Nieselregen, während ihre Augen bereits über die Fassade des Juweliergeschäfts glitten. ›Sie sollten es sich wert sein!‹, lautete die Werbebotschaft quer über der Schaufensterscheibe. Eine überschaubare, aber sehr erlesene Auswahl an Ketten, Ringen und Uhren waren auf der anthrazitfarbenen Auslagefläche drapiert. Versteckte Spots brachten Gold, Silber und Brillanten zum Funkeln. Aber die Regentropfen, die an der Scheibe wie eilige Perlen hinabglitten, legten einen Schleier über all den Glanz. Kleine Kunststoffwürfel mit aufgedruckten Zahlen setzten die Kunden darüber in Kenntnis, wie viel man investieren musste, um seinem äußeren Erscheinungsbild zu neuen Werten zu verhelfen. Die vier- oder gar fünfstelligen Zahlen lösten in Analyn Unverständnis aus. Wieso gaben Menschen soviel Geld für Schmuck aus?
Auf den Eingangsstufen schüttelte sie die Feuchtigkeit aus ihren pechschwarzen Haaren und hielt kurz inne. Es war ihre Art, sich vor dem, was nun kommen würde, zu wappnen. Sie atmete zweimal tief durch und trat dann durch die geöffnete Eingangstür. Heller Marmorfußboden, kirschbaumfarbene Vitrinen und mintgrüne Wände gaben dem Geschäftsraum ein edles Ambiente. Schon beim zweiten Schritt knirschten Glassplitter unter ihren Turnschuhen. Der oder die Täter hatten übel gewütet. Ein großer Teil der Glasvitrinen war zerstört und bis auf wenige Schmuckstücke geplündert. Einzig die Schaufensterauslage samt ihrer Glasabtrennung zum Innenraum war noch intakt. Auf dem Sofa davor glitzerten Millionen von Scherben. Ein Tablett lag falsch herum auf dem Marmorboden zwischen zerbrochenen Gläsern. Eine Champagnerflasche spiegelte sich daneben in ihrem eigenen kostbaren Nass, das sich mit dem Wasser einer umgekippten Blumenvase vermischte. Ein Notarzt und ein Rettungssanitäter kümmerten sich um eine Frau. Obwohl deren Kopf bereits verbunden war, sickerte Blut durch den Verband, der immer mehr die Farbe ihres knallroten Kleides annahm. Während der Sanitäter eine Infusionsflasche hochhielt, fummelte der Arzt an der Kanüle herum, die er auf dem Handrücken der Patientin fixiert hatte. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum sichtbar.
Niemand erwiderte Analyns Gruß, als sie über die Scherben ging. Zu konzentriert kämpften die Männer um das Leben der Frau. Analyn steuerte ein Nebenzimmer an. Sie hatte sich nicht getäuscht. Hauptkommissar Beinert war bereits hier und hörte einem Mann zu, dessen Gesicht ebenso weiß war wie sein gebügeltes Hemd.
»Als auf meinem Handy der Alarm einging, bin ich sofort losgerast. Aber als ich hier ankam, war alles schon gelaufen.« Der Mann lief in dem kleinen Kämmerchen zwischen Schreibtisch und Küchenzeile hin und her. Er unterbrach seine Wanderung nicht, als Analyn eintrat und grüßte. Ihr Chef hingegen drehte sich zu ihr um.
»Ah, Frau Zettelmann. Gut, dass Sie hier sind. Darf ich vorstellen: Herr Rugery. Der Besitzer des Geschäfts.«
Analyn nickte. »Und wer ist die verletzte Frau da draußen?«
»Eine Mitarbeiterin, Gabriella Waldbach«, antwortete Hauptkommissar Beinert. Da es draußen lauter wurde, erhob auch Beinert seine Stimme, als er den ruhelosen Wanderer ansprach: »Sie haben doch Überwachungskameras, Herr Rugery.«
»Selbstverständlich.«
»Wir müssen das Filmmaterial sichten und sichern. Wie sieht es mit Außenkameras aus?«
Rugery schüttelte den Kopf. »Die Bereiche, die im öffentlichen Raum gefilmt werden dürfen, sind sehr begrenzt. Das sollten Sie doch am besten wissen.« Dann änderte er seine Laufrichtung und öffnete einen der Schränke. Graue Strähnen durchzogen seine dunklen Haare ebenso wie seinen gepflegten Bart. Das weiße Hemd mit einem locker gebundenen Seidenschal und die graue Flanellhose verliehen dem Mann eine Mischung aus Lässigkeit und Schick. Die Aufmachung sollte wohl bei seiner zahlungskräftigen Kundenschicht Vertrauen erwecken. Aber dies waren keine normalen Umstände und Rugery wirkte alles andere als souverän, als er einen Laptop auf den Schreibtisch stellte.
»Haben Sie schon einen Überblick, wie viel Schmuck abhanden gekommen ist?«, wollte Analyn wissen.
»Wir haben erst vor wenigen Tagen eine neue Kollektion bekommen. Ketten, Ringe und einige Rolex-Uhren. Alles sehr exklusiv und hochwertig. Der Schmuck lag in den langen Vitrinen rechts vom Eingang und die Uhren in den beiden Säulenvitrinen links. Soweit ich das vorhin auf die Schnelle sehen konnte, ist das alles weg.«
»Nun, Sie sind bestimmt gut versichert«, versuchte Analyn, den Mann zu trösten.
Dieser wurde ungehalten. »Versichert, versichert! Es geht doch nicht bloß um das Geld! Es waren echte Schmuckstücke! Unikate! Filigrane Handarbeiten! Wissen Sie, wie viele Stunden Arbeit in einer Halskette stecken, die nicht nullachtfünfzehn Massenware ist? So etwas hat nicht nur einen materiellen Wert. Das ist unersetzlich. Verstehen Sie?«
Analyn nickte, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie das verstand. Sie machte sich nicht allzu viel aus Schmuck. Eine schlichte Silberkette, dazu ein schmaler Ring mit einem durchsichtigen Stein, von dem sie nicht einmal sagen konnte, ob er echt war oder wie er hieß, waren der einzige Schmuck, den sie besaß.
Rugery tippte auf einem Laptop herum, als der Notarzt den kleinen Raum betrat. Analyn sah ihm die schlechte Nachricht an, bevor er sie aussprach: »Tut mir leid. Wir können nichts mehr für die Frau tun.« Frustriert streifte er die blutigen Einweghandschuhe ab und nickte den Anwesenden kurz zu, bevor er sich umdrehte und ging.
Rugery ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Das kann nicht wahr sein, das kann nicht wahr sein …«, wiederholte er immer wieder, bis Analyn ihn unterbrach.
»Können Sie uns den Namen und die Adresse Ihrer Mitarbeiterin geben, Herr Rugery? Sicher hat Sie Angehörige, die wir verständigen müssen, bevor es die Medien tun.«
»Gabriella, ich meine Frau Waldbach, lebt allein. Aber sie hat eine Schwester. Ich kann Ihnen die Telefonnummer und Adresse geben.«
Der konkrete Arbeitsauftrag gab dem Mann Halt und er kramte nach Zettel und Stift. Mit zittriger Hand scrollte er über sein Handy und notierte dann das Gewünschte.
»Danke, ich kümmere mich darum«, versprach Analyn und steckte das Papier in ihre Hosentasche.
»Wir nehmen den Laptop mit«, ordnete Beinert an und löste die Verkabelung.
»Ich gebe Ihnen das Password.« Rugery begann erneut zu schreiben.
»Frau Zettelmann, sagen Sie den Kollegen, sie sollen sich draußen mal nach Überwachungskameras von anderen Geschäften umsehen. Vielleicht erfahren wir so, woher der Täter kam und wohin er floh.«
»Mache ich.«
»Und was passiert mit …«, der Juwelier zögerte, »Gabriella?«
»Sie muss in die Gerichtsmedizin. Vielleicht warten Sie hier hinten, bis wir Sie rufen?«, schlug Analyn vor. Kurz legte sie ihre Hand auf die Schulter des Mannes, als könne sie ihm damit Trost und Kraft geben. Dann folgte sie ihrem Chef in den Verkaufsraum.
Es war bereits dunkel als Analyn ihren kleinen Corsa hinter der Polizeistation Ebbelheim parkte. In ihrem Büro im ersten Stock brannte Licht. Beinert war vorausgefahren, während sie noch gewartet hatte, bis Frau Waldbach in die Gerichtsmedizin gebracht worden war und die Kollegen von der Spurensicherung ihre Arbeit aufgenommen hatten. Vor morgen früh würde es keine weiteren Informationen geben. Blieb zu hoffen, dass ihr Chef auf dem Überwachungsvideo brauchbares Material gefunden hatte. Aber als Analyn das Büro betrat, bemühte Beinert sich mit einer Hand um die Verkabelung des fremden Laptops, während er mit der anderen Hand sein Telefon ans Ohr presste. Sein Tonfall war ungewöhnlich harsch, dafür, dass er mit seiner Liebsten telefonierte.
»… ja, ich weiß, Schatz! Gib mir noch eine Stunde. … Nein, natürlich nicht! … Warum sollte der Urlaub platzen? … So ein Blödsinn … Ja, bis später, Tschüss.« Dann legte er das Telefon zur Seite.
»Probleme?«, fragte Analyn.
»Nein, wie kommen Sie darauf? Ich meine, doch. Das Kabel reicht nicht.«
»Versuchen Sie es mal mit der Steckdose von der Schreibtischlampe«, schlug sie vor und legte den Zettel mit den Zugangsdaten auf Beinerts Schreibtisch.
Wenig später erschienen die Fenster von insgesamt drei Überwachungskameras auf dem Bildschirm.
»Na, dann wollen wir mal.« Beinert klickte auf eine Aufnahme, die nahezu den gesamten Verkaufsraum umfasste. Er startete die Wiedergabe gegen sechzehn Uhr dreißig, und während der Film hochgeladen wurde, zog Analyn ihren Schreibtischstuhl an Beinerts Tisch und setzte sich. Einen kurzen Moment war sie versucht, ihn wegen des Aktenbergs auf ihrem Schreibtisch zur Rede zu stellen, aber im Moment gab es Wichtigeres zu tun.
Die Bildqualität war erstaunlich gut. Frau Waldbach war allein im Laden und hob gerade ihr Handy an ihr Ohr, als eine ältere Frau mit einem gepunkteten Kopftuch den Geschäftsraum betrat. Sie schlenderte an den Schmuckauslagen entlang. Es dauerte eine Weile, bis die Verkäuferin ihr Telefonat beendete und die Kundin ansprach.
»Typisch. Wenn man nicht in das Beuteschema dieser Nobelläden passt, wird man als Kundin komplett ignoriert«, kommentierte Analyn das Verhalten der gerade verstorbenen Frau Waldbach. »Schade, dass es keinen Ton dazu gibt.« Da ihr Chef stumm blieb, konzentrierte Analyn sich wieder auf die beiden Frauen. Die Ältere kramte in ihrer Handtasche und zog etwas heraus.
»Stopp! Was ist das?« Beinert klickte auf seine Maus und unterbrach die Aufnahme. Dann zoomte er das Bild heran.
»Eine Pralinenschachtel? Was soll das denn?«
»Keine Ahnung.«
Beinert ließ den Film weiterlaufen. Frau Waldbachs Körperhaltung spiegelte eine gehörige Portion Abneigung wider, während sie sich über die Pralinenschachtel beugte und hineingriff. Beinert pfiff durch die Zähne.
»Das nenne ich kalorienarmes Konfekt.« Erneut stoppte er die Aufnahmen und vergrößerte ein Collier, das die Verkäuferin in ihren Händen hielt. Elfenbeinfarbene Perlen und blaue Saphire funkelten im Licht. Leider drehte sich Frau Waldbach dann leicht zur Seite und verdeckte damit den Blick der Kamera.
»Warum trägt die Kundin dieses dämliche Kopftuch?«, fragte Beinert ungehalten. »Man kann nicht einmal erkennen, wie alt die Frau ist. Geschweige denn, wie sie aussieht.«
»Vielleicht weil es draußen regnet?«
»Ja draußen, aber nicht drinnen.«
Während die Kundin das Collier wieder in der Pralinenschachtel verstaute, legte Frau Waldbach ein geschäftiges Treiben an den Tag. Lächelnd deutete sie auf eine Flasche und reichte wenig später der Frau ein gefülltes Glas Champagner. Dann eilte sie hinter den Verkaufstresen und ergriff das Telefon. Nach einem erneuten Lächeln in Richtung ihrer Kundin drehte sich Frau Waldbach zur Seite und schien angeregt zu telefonieren. Die Kundin stellte ihr Sektglas ab. Analyn traute ihren Augen nicht.
»Ich fass es nicht. Die klaut!«
»Ja, aber nur Erdnüsse«, bemerkte ihr Chef trocken, nachdem er die Aufnahme vergrößert hatte.
»Aber beutelweise«, empörte sich Analyn.
Kaum hatte die Frau ihre Handtasche wieder geschlossen, drehte sie sich gemächlich um. Frau Waldbach war immer noch mit ihrem Telefonat beschäftigt. Plötzlich zuckten beide Frauen zusammen.
»Stopp!«, schrie Analyn. »Noch mal, aber langsamer.«
In Zeitlupe sahen sie, wie die Frauen sich nacheinander umdrehten.
Die Totale zeigte eine dunkel gekleidete Gestalt mit einer Strumpfmaske über dem Kopf. Der Täter griff augenblicklich in seine Jacke und förderte einen langen Vorschlaghammer zutage, mit dem er gezielt auf die erste Schmuckvitrine zu seiner Rechten einschlug. Zwei Schläge genügten und das Glas zerbarst. Mit schwarzen Lederhandschuhen griff der Mann in die Scherben und stopfte Ketten und Ringe in eine Baumwolltasche. Dann schlug er erneut zu. Diesmal wechselte Silberschmuck von der Vitrine in seine Tasche. Inzwischen rannte Frau Waldbach hinter dem Verkaufstresen hervor, den Mund weit aufgerissen.
»Was macht die denn?«, schrie Analyn fassungslos. »Warum versteckt sie sich nicht einfach?«
»Falsches Heldentum«, erwiderte ihr Chef, »auch Dummheit genannt!«
Sobald die Verkäuferin den Mann erreicht hatte, zog sie an dessen Ärmel. Gleichzeitig versuchte sie, einige der Colliers vor ihm in Sicherheit zu bringen. Ein Unterfangen, das ihr nicht gut bekam. Blitzschnell drehte der Maskierte sich um und schubste die Frau von sich. Aber so leicht gab die nicht auf. Ein zweites Mal attackierte sie den Dieb. Seine Antwort folgte prompt, in dem er mit dem Hammer nach der Frau schlug. Frau Waldbach brach zusammen. Im Fallen schlug ihr Kopf hart auf den Rand der kaputten Glasvitrine. Sofort raffte der Mann die Colliers an sich. Dann drehte er sich um und schaute zu der Kundin. Diese wich einen Schritt zurück, die Handtasche fest an ihren Bauch gepresst. Wie in einem Stummfilm sackte sie plötzlich bewusstlos auf die Couch. Unbeirrt malträtierte der Mann mit zwei festen Schlägen die nächste Vitrine, räumte auch diese leer und verschwand dann, genauso schnell, wie er gekommen war, wieder auf der Straße.
»Wow! Die ganze Aktion hat gerade mal drei Minuten gedauert«, stellte Analyn fest.
»Drei Minuten siebzehn, um genau zu sein.«
»Was ist das denn?« Analyns Aufmerksamkeit kehrte zu dem Bildschirm zurück, wo die vermeintlich bewusstlose Kundin sich plötzlich aufrappelte. Mit wenigen Schritten eilte sie zu Frau Waldbach. Fürsorglich beugte sie sich über die Verkäuferin am Boden. Dann griff sie nach dem Telefon und presste es an ihr Ohr. Sprach die Frau irgendetwas? Und wenn ja, mit wem? Analyn konnte es nicht erkennen.
Plötzlich hatte es die Kundin sehr eilig. Statt Erste Hilfe zu leisten, verließ sie fluchtartig das Juweliergeschäft.
»Die beiden werden sofort zur Fahndung ausgeschrieben«, ordnete Beinert an. »Veranlassen Sie, dass die Fotos umgehend an alle Polizeidienststellen rausgegeben werden.«
»Viel sieht man nicht auf den Bildern. Der Mann ist komplett vermummt und die Frau ist mit ihrem Kopftuch quasi auch nicht zu erkennen«, wandte Analyn ein. Als ihr Chef den Mund öffnete, ergänzte sie schnell: »Aber es ist unsere einzige Chance im Moment. Ich werde die Bilder auch an die Presse geben.«
»Mit einer detaillierten Beschreibung der Kleidung«, forderte Beinert.
Ohne ein Klopfen öffnete sich die Tür und Lissy streckte ihren Kopf ins Büro. »Ihr zwei Hübschen seid ja noch da«, stellte sie grinsend fest, erhielt aber keine Antwort. »Hartwig, ein Reporter von der Ebbelheimer Zeitung will ein Interview. Und dann wären da noch Anfragen von main tv, Pro Sieben, der Frankfurter Allgemeinen, der Rundschau und der …«
»Die sollen bis morgen warten.« Er schaute auf seine Uhr. »Sag denen, vormittags um elf Uhr gibt es eine Pressekonferenz. Für die heutigen Abendnachrichten und den Zeitungsdruck schickt Frau Zettelmann gleich zwei Überwachungsbilder und eine Kurzmeldung raus. Das muss fürs Erste reichen. Wir haben zu tun, da stört die Presse nur.«
»Alles klar.« Lissy zog die Tür hinter sich zu.
»Lissy!«, schrie Beinert hinter ihr her.
Die Gerufene steckte ihren Kopf erneut zur Tür herein.
»Von wem kam eigentlich der Notruf wegen des Juweliergeschäfts?«
»Das lief mehrgleisig. Erst über die normale Alarmanlage des Geschäfts. Die läuft automatisch bei uns auf. Und dann war da noch ein Anruf.«
»Von einer Frau oder einem Mann?«
Lissy musste nicht lange überlegen. »Eine Frau. Aber ich muss wieder runter. Wir haben heute Abend nur eine Notbesetzung wegen der Demo vor dem Asylbewerberheim. Du hilfst uns doch später, Analyn?«
Beinert seufzte. »Stimmt. Unser Grüppchen Rechter macht sich mal wieder wichtig, um die Asylanten zu erschrecken. Es ist eine Schande, dass dieser Haufen Verblendeter so viele Polizeikräfte bindet. Ganz abgesehen von dem großen Echo, das sie in der Presse finden. Alles harmlose Chaoten.«
»Hoffen wir, dass es friedlich bleibt«, entgegnete seine Kollegin. »Ich komme bei euch vorbei, Lissy, sobald ich hier fertig bin.«
Lissy lächelte ihr dankbar zu und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück.
Beinert stand auf und machte sich an der uralten Kaffeemaschine zu schaffen. »Das Rathaus sollte unserem Juwelendieb dankbar sein. Der hält ihnen morgen die Titelseite der Ebbelheimer Zeitung zumindest von den rechten Parolen sauber.«
»Sie werden den Überfall wohl nicht eigens dafür bestellt haben«, bezweifelte Analyn und schob ihren Stuhl an den Schreibtisch zurück. Anschließend griff sie nach dem fremden Aktenberg und trug ihn zu Beinerts Arbeitsplatz. Im Austausch nahm sie den Laptop des Juweliers mit. Dann meldete sie sich per WhatsApp bei ihrem Bruder ab und schickte einen Kuss-Smilie für ihre kleine Nichte Leonie mit. Eine zweite Nachricht ging an ihren Freund Marius. Die Verabredung zum Essen musste sie absagen. Ihr Feierabend war in weite Ferne gerückt.
Wortlos nahm ihr Chef den Aktenberg von seinem Schreibtisch und legte ihn auf das Sideboard neben die Kaffeemaschine, die geräuschvoll vor sich hin blubberte.